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  Haushaltsrede 2003
Bernd Heyl, Liste Solidarität

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Debatten um die Verabschiedung des Haushaltes 2003 haben in den vergangenen Wochen unerwartet hohe Wellen geschlagen. Eigentlich sollte der heute zur Verabschiedung anstehende Haushalt ja nur noch eine Formsache sein, denn den Anspruch, die Grundlinien der zukünftigen Rüsselsheimer Haushaltspolitik festzulegen, erhebt ja das im Juni verabschiedete Konsolidierungsprogramm. Stecken hinter dem Nebel der mit harten Bandagen und verbalen Entgleisungen ausgetragenen Schaukämpfe tatsächlich unterschiedliche Positionen oder sind sie nur Ausdruck allgemeiner Hilflosigkeit?

Sowohl auf Bundes- Länder und kommunaler Ebene gestaltet sich die Lage der öffentlichen Haushalte katastrophal und so steht denn auch das CDU/FDP regierte Hessen in Sachen Verschuldung dem Bund oder der Stadt Rüsselsheim in nichts nach. Der öffentliche Schuldenberg wächst nicht nur in Rüsselsheim exorbitant und jedes Jahr stellt sich die Frage neu, wie kann das Problem der Verschuldung öffentlicher Haushalte gelöst werden, welche öffentlichen Leistungen brauchen wir und was sind sie uns wert.

Nach wie vor dominiert weltweit die Auffassung, dass es Aufgabe des Staates ist, vor allem und als erstes möglichst günstige Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum zu schaffen.
Herbert Schui, Professor für Volkswirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, bringt den Kern dieser ideologischen Leitgedanken auf den Punkt: Sie sind "gekennzeichnet durch die Vorherrschaft der Idee, dass die wirtschaftliche Lage nur zu bessern sei durch den "schlanken" Staat, durch Deregulierung, mehr Markt und weniger staatliche Gesetze, durch Flexibilität, Wettbewerb und Freihandel." Dieses wirtschaftliche Paradigma wird gemeinhin in der wissenschaftlichen Literatur mit dem Attribut neoliberal versehen und es ist unschwer zu erkennen, dass es vielfach auch das Leitmodell für die Rüsselsheimer Kommunalpolitik ist.

Heute, nach ca. fünfzehnjähriger globaler Dominanz dieser Konzepte, kristallisiert sich als zentrales Problem eine zunehmende ungerechte Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums heraus. In Deutschland stellt sich dies wie folgt dar: Während das Bruttosozialprodukt von 1991 bis 2001 um ca. 15,5 % wuchs und die Gewinne der Kapitalgesellschaften um weit über 50% stiegen, sank der Nettorealverdienst je beschäftigtem Arbeitnehmer im gleichen Zeitraum um 1,75%. Das Wachstum von Löhnen und Gehältern wurde vom Produktivitätswachstum abgekoppelt. Da aber sowohl die privaten als auch die öffentlichen Arbeitgeber derzeit vor allem auf Senkung der Lohnkosten setzen, bewegt sich die deutsche Gesellschaft mit großer Geschwindigkeit auf eine wirtschaftliche Depression zu.

Zu Denken gibt es auch, wenn man den Anstieg der Staatsverschuldung von ca. 1 Billion DM 1990 auf 2,3 Billionen DM im Jahr 2000 mit dem Wachstum der privaten Geldvermögen vergleicht. Diese legten nämlich von 4.1 Billion auf 6.75 Billionen im gleichen Zeitraum zu. Es ist also nicht wahr, dass die heutige Generation auf Kosten der zukünftigen lebt, denn die Vermögen werden ja ebenso vererbt wie die Schulden. Wir haben also auch hier vor allem ein Verteilungsproblem eine sozialpolitische Schieflage, die das Erbe der Ära Kohl ist und deren deutliche Korrektur rotgrün bisher nicht zustande gebracht hat.

Dabei ist jedoch unter seriösen Zeitgenossen mittlerweile weithin unbestritten, dass eine angemessenere Besteuerung von Großunternehmen, Kapitalgesellschaften und großer Vermögen zur Finanzierung des Gemeinwesens unverzichtbar ist. Oberbürgermeister Gieltowski hat in seiner Einbringungsrede auf erste Schritte der Bundesregierung in diese Richtung hingewiesen. Ich bezweifele jedoch - erst recht nach dem erneuten "Nein" von Bundeskanzler Schröder zur Vermögenssteuer - dass rotgrün derzeit zu einem wirklichen Politikwechsel fähig ist, die aktuellen Nachrichten verheißen nichts Gutes: In den letzten Tagen hat die Bundesregierung eine steuerpolitische Kehrtwende um 180 Grad vollzogen. Während in der Koalitionsvereinbarung noch von der Schließung von Steuerschlupflöchern die Rede war, soll nun auf die Vermögenssteuer verzichtet und sogar eine Niedrigsteuer für Kapitaleinkünfte eingeführt werden. Nicht nur, dass hier auch das nächste kommunale Haushaltsloch gegraben wird, was sollen die Bürgerinnen und Bürger von der geplanten Amnestie für Steuerflüchtlinge halten? Jeder Sparappell an die Bürgerinnen und Bürger entlarvt sich als doppelt unglaubwürdig, wenn nun auch noch diejenigen, die der Gesellschaft auf kriminelle Weise Steuern vorenthalten, straffrei ausgehen.

Steuerpolitisch brauchen wir eine konsequente Entlastung von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Mittelstand bei deutlicher Anhebung der Steuern und Abgaben von Großverdienern aller Art und der konsequenten Schließung aller Steuerschlupflöcher. Und - wir sind nach wie vor der Auffassung, dass hierzu auch eine moderate Anhebung des Gewerbesteuerhebesatzes in Rüsselsheim gehört. Eine solche Politik ist nicht nur die Voraussetzung für eine dauerhafte Konsolidierung der Staatsfinanzen, sie ist auch ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit.

Damit komme ich zu der Frage, wie wollen wir in Zukunft leben? Auch hier dominieren heute die "Visionen" der neoliberalen Modernisierer. Ihr Bild vom Menschen ist das eines willfährigen und den Bedürfnissen der flexibilisierten und deregulierten Arbeitswelt angepassten Wesens, wie etwa die 28,5 Stunden Erzieherin oder die auf Abruf einsetzbare zweimal drei Stunden Betreuungskraft in der Betreuungsschule. Die Menschen sollen Marktgesetze widerspruchslos wie das Wetter akzeptieren und durch exzessiven Konsum von allem und jedem die Wirtschaft ankurbeln. Die selbsternannten Modernisierer wollen den Menschen, der freundschaftliche und lokale Bindungen und Identitäten jederzeit bereit ist über Bord zu werfen und der darauf verzichtet, sich zur Durchsetzung seiner Interessen und Bedürfnisse zu organisieren. An die Stelle von Humanität, menschlichen Gefühle, emotionalen Bindungen und solidarischen Zusammenhängen setzen sie das Prinzip der nackten baren Zahlung. Wenn das modern ist, dann bin ich gerne konservativ.

Meine Damen und Herren,
die Errungenschaften des Sozialstaates des vergangenen Jahrhunderts sind Ergebnis leidvoller Erfahrungen, Kriege und harter sozialer Auseinandersetzungen. Sie markieren progressive Entwicklungen der menschlichen Gesellschaft. Eine wirklich positive Entwicklung muss diese Erfolge aufheben, sie darf nicht hinter einmal erreichte soziale Standards zurückfallen. Einer Gesellschaft, die diese Prämisse nicht berücksichtigt, wird es so ergehen wie den sich selbst sozialistisch nennenden Gesellschaften der Vergangenheit, die glaubten ohne die demokratischen Errungenschaften der französischen Revolution auskommen zu können. Eine marktradikal umgestaltete Gesellschaft wird an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen. Das was uns heute von den Anhängern des Neoliberalismus als Modernisierung oder Reform verkauft wird, ist alles andere als modern im klassischen Sinne, es ist nichts als der radikale sozialpolitische Rückfall ins 19. Jahrhundert und viele der gegenwärtig in Rüsselsheim diskutierten Sparmaßnahmen liegen auf dieser Linie.

Wie überall auf der Welt - ich erinnere an das Welt Sozialforum in Porto Alegre und an das europäische Sozialforum in Florenz - entwickelt sich auch in Rüsselsheim ein Bündnis von Menschen, die der neoliberalen Globalisierung kritisch gegenüber stehen. Hier engagieren sich Menschen aus sozial orientierten Kirchenkreisen ebenso wie Gewerkschafter, Eltern, Senioren oder diejenigen, die soziale Errungenschaften nicht einfach preisgeben wollen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist es in der Auseinandersetzung um die Haushaltskonsolidierung gelungen, einige wichtige Korrekturen durchzusetzen. Es stellt sich aber die Frage, ob sie bereits einen grundsätzlichen kommunalen Politikwechsel für Rüsselsheim markieren.

In seiner Haushaltsrede formulierte Oberbürgermeister Gieltowski deutliche Kritik in Richtung Bund und Land. Er warnte aber davor - offensichtlich in guter Kenntnis der in Berlin Regierenden - eine wirklich durchschlagende finanzielle Entlastung durch die Ergebnisse der "Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen" zu erwarten. Und hier, Herr Oberbürgermeister, beginnen unsere Differenzen. In meiner Vorstellung von Zukunft sind die Kommunen die Basis der Gesellschaft. Vor allem hier kann in einem überschaubaren Raum Demokratie verwirklicht und gelebt werden, hier müssen die Menschen die Möglichkeit haben, in einem demokratisch und nicht marktförmig gesteuerten Prozess das Gemeinwesen, die Stadt zu gestalten und über die dazu notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Hier vor allem haben die Menschen einen Überblick darüber, welche Maßnahmen ihren Interessen entsprechen, welche ihnen nutzen und welche nicht und hier können sie auch wirkungsvoll in das politische Alltagsgeschäft eingreifen und den politischen Druck entfalten, der Voraussetzung für einen wirklichen Politikwechsel ist.

Im Mittelpunkt der Modernisierungsdebatte, wie sie in Rüsselsheim geführt wird, steht die Attraktivitätssteigerung der Innenstadt. Hier geschieht, was in anderen Bereichen nur unter großen Anstrengungen gelingt: Es werden immer neue tatsächliche oder eingebildete Missstände angeprangert und sofort beginnt eine heftige Suche nach Lösungsmöglichkeiten und zwar ohne den permanenten Hinweis auf mögliche Kosten. Ganz anders ist die Reaktion der politischen Klasse Rüsselsheims, wenn soziale Fragen angesprochen werden. Ob es sich um den akuten Lehrstellenmangel oder ob es sich um ein notwendiges durchgängiges Konzept für integrative Pädagogik handelt, die Stellensituation in den Kindertagesstätten, wohnortnahe Altentagesstätten oder die Qualität der Betreuungsschulen: Eine unvoreingenommene Analyse der Probleme ist kaum möglich. Jede Kritikerin und jeder Kritiker wird sofort mit einer Fülle von Zahlen und Details überschüttet, die selbst für Insider oft unüberschaubar sind, Magistrat und Verwaltungsspitze gehen auf Abwehrhaltung und die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich in ihren Anliegen nicht ernst genommen. Eine wirklich kritische Debatte darüber, wie viel Innenstadtsanierung, wie viel Wirtschaftsförderung und welche Großbauprojekte wir uns heute noch leisten können, wird nicht geführt. Denkblockaden gibt es auch bei der dringend notwendigen schonungslosen Bestandsaufnahme der Situation der Jugendlichen ohne berufliche Ausbildungsstelle, insbesondere der Situation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Und was völlig unverständlich ist: Die Rüsselsheimer Stadtverordneten sind noch nicht einmal bereit, die auch von den kommunalen Arbeitgebern unterzeichneten Ziele des Bündnisses für Arbeit und Ausbildung als Leitlinen kommunalen Handelns verbindlich anzuerkennen.

Wenn aber eine Politik, die auf allen Ebenen der Gesellschaft auf Reduzierung von Lohnkosten und den Abbau von Arbeitsplätzen setzt, zwangsläufig in die Depression führt, dann müssen wir vor allem - und dies gilt gerade für die Stadt als Arbeitgeber - in neue und zusätzliche kommunale Arbeitsplätze investieren und das ist natürlich genau das Gegenteil von dem, was CDU und FDP vorschlagen.

In Gegensatz zu ihren Auffassungen müssen Arbeitsplätze heute da entstehen, wo personennahe Tätigkeiten, wie die Organisation von Lernprozessen, Kinder- und Jugendpflege oder Seniorenarbeit vor dem Hintergrund zunehmender Individualisierungsprozesse dringend auszubauen sind. Machen wir uns doch von dem bürokratischen Denken frei, das in Pflicht- und freiwillige Leistungen einer Kommune trennt, denn hier ist wirklich "Flexibilisierung" angesagt. Ein gutes Jugendbildungswerk, eine gut ausgebaute Jugendpflege, eine öffentliche Seniorenarbeit, die es den Menschen in der Stadt ermöglicht in Würde alt zu werden und ihnen den notwendigen und verdienten Respekt zollt, sind in der Sache ebenso unverzichtbar wie die Sozialfürsorge oder gut ausgebaute Schulen.

Kommunale Arbeitsplätze müssen auch in ihrer sozialen und humanen Gestaltung vorbildlich sein. Die Stadt muss zu einem attraktiven Arbeitgeber werden, damit die offenen ErzieherInnenstellen in den Kindertagesstätten baldmöglichst besetzt werden können. Die Antwort des Sozialdezernenten Dreiseitel auf unsere Anfrage zur Stellensituation in den Kindertagesstätten ist in diesem Zusammenhang äußerst unbefriedigend. Nicht nur, dass sie unvollständig ist, wer je mit Betroffenen persönlich gesprochen hat weiß, dass sie auch Schönfärberei betreibt. Es gibt also berechtigten Anlass, an der Entschlossenheit des Magistrates alle Erzieherinnenstellen so schnell wie möglich zu besetzen, zu zweifeln. Die Liste Solidarität wird daher im kommenden Jahr regelmäßig nach dem aktuellen Stand der Stellenbesetzung in den Kindertagesstätten fragen. Es darf nicht sein, dass die Ergebnisse der Bürgerbegehren durch Stellennichtbesetzung unterlaufen werden.

Zur Attraktivität kommunaler Arbeitsplätze gehört aber auch die Bezahlung. Der öffentliche Dienst hat heute gegenüber der Lohnentwicklung in der Wirtschaft einen großen Nachholbedarf, auszugehen ist von 7 Prozent. Die Lohn und Gehaltsforderungen der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sind daher maßvoll und mehr als berechtigt. Ich möchte hier nachdrücklich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Stadtverwaltung und der städtischen Eigenbetriebe meine uneingeschränkte Unterstützung für die aktuelle Tarifrunde aussprechen.

Im Gegensatz zu CDU und FDP hat die Liste Solidarität in der Haushaltsdebatte den Versuch unternommen, ihre Vorstellungen durch konkrete Anträge (>zu den Anrägen) zu veranschaulichen: Einsparungen im Bereich des Vermögenshaushaltes, Erhalt und Ausbau sozialer Einrichtungen und weitere Korrektur an Fehlentscheidungen des Haushaltskonsolidierungsprogramms, insbesondere im Seniorenbereich. Bis auf zwei Ausnahmen konnten wir uns in der Tendenz nicht durchsetzen. Sicher, der Magistrat hat aufgrund des öffentlichen Drucks beim Sozialabbau auf die Bremse getreten, sicher, die Einführung der Schulsozialarbeit ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch vom notwendigen Politikwechsel ist auch Rüsselsheim weit entfernt, die Akzente werden falsch gesetzt und die Gewichte sind falsch verteilt. Meine Damen und Herren, Ich kann daher dem Haushalt in der jetzt vorliegenden Form nicht zustimmen.

Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.

 

   
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