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Redebeitrag des Stadtverordneten Bernd
Heyl zum Haushaltsentwurf 2004 (17.12.2003)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
zunächst konnte der Eindruck entstehen, dass
die diesjährige Haushaltsdebatte vergleichsweise unspektakulär
verlaufen würde. Die hessische Landesregierung zog mit ihrem
unsozialen und in vielen Bereichen unverantwortlichen sogenannten
Sparpaket die Aufmerksamkeit auf sich, SPD und Grüne signalisierten
zaghafte Zustimmung zu den Protesten von Gewerkschaften, Kirchen
und Sozialverbänden und riefen in letzter Minute sogar zur
Beteiligung an der Großdemonstration in Wiesbaden am 18.
November 2003 auf. Doch sowohl der auf Bundesebene jetzt im Vermittlungsausschuss
modifiziertete Vorschlag zu Steuerreform und Agenda 2010 als auch
die in Rüsselsheim neu aufgebrochene Debatte über die
Konsolidierung des kommunalen Haushaltes unterscheiden sich qualitativ
kaum von Kochs „Sparkonzept“. Es ist CDU und FDP im
Bund wie in Rüsselsheim gelungen, ihre politischen Prämissen
des Sozialabbaus und konservativen Umbaus der Gesellschaft ein
gutes Stück voran zu bringen.
Dass dies in so eindrucksvoller Form gelingt, ist
wohl vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich rotgrüne
und schwarzgelbe Politikkonzepte kaum noch unterscheiden. Deshalb
ist auch die Charakterisierung der aktuellen politischen Situation
als „Wettlauf um den Abbau des Sozialstaates“ durch
den Vorstandsvorsitzenden des Diakonischen Werks in Hessen Nassau,
Pfarrer Dr. Wolfgang Gern, mehr als zutreffend. Die sogenannte
„Operation sichere Zukunft“ steht ebenso wir die Agenda
2010 für eine Politik ohne Zukunft für die sozial Schwachen,
für den Abbau der sozialen Infrastruktur und die Durchlöcherung
des Hilfsnetzes für Menschen am Rande der etablierten Gesellschaft.
Sie steht für die Etablierung eines Niedriglohnsektors, für
hire and fire und rechtlose Arbeitsverhältnisse. Die Menschen
im Land sollen sich klag- und widerstandslos den Bedürfnissen
des Arbeitsmarktes und des globalen Wettbewerbes fügen. In
der Richtung sind sich trotz marginaler Unterschiede die etablierten
Parteien einig und dies schlägt sich nieder in der Abkehr
von immer mehr Menschen von einer Politik, in der sie ihre Interessen
nicht mehr wiederfinden. Gegen die Politik des herrschenden Blocks
entwickelt sich jedoch zur Zeit ein breites außerparlamentarisches
Bündnis von Kirchen, Gewerkschaften und Globalisierungskritikern,
das unter dem Motto „Eine andere Welt ist möglich“
beginnt, ein politisches Alternativkonzept zu entwickeln.
Ausgangspunkt aller Überlegungen für eine
andere Politik sind eine Reihe von Fakten, die deutlich machen,
dass die Mehrzahl der Menschen in Deutschland und anderswo materiell
keineswegs – wie auch hier immer wieder behauptet wird -
über ihre Verhältnisse lebt. Global verdoppelte sich
die Arbeitsproduktivität in den vergangenen zehn Jahren und
während so einerseits die materiellen Möglichkeiten
zur Bedürfnisbefriedigung heute so gut sind wie nie zuvor,
liegt hier auch ein Grund für das aktuelle Desaster. Weltweit
geht mit der steigenden Produktivität naturgemäß
ein Fall der Profitrate einher und alle Maßnahmen von OECD
und Weltbank, die Privatisierung, Etablierung von Niedrig- und
Niedrigstlohnsektoren und andere Formen der Deregulierung anstreben,
haben letztlich vor allem das Ziel, die Profitraten zu stabilisieren.
Ausdruck dieser Politik ist es auch, dass die reale Kaufkraft
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland seit Anfang
der 90iger Jahre leicht zurückging, während die Einnahmen
aus Unternehmertätigkeit im gleichen Zeitraum von 100 auf
ca. 150 Punkte stiegen. Da Unternehmensgewinne bei gleichzeitig
sinkender Investitionstätigkeit von Jahr zu Jahr weniger
besteuert wurden, stieg das private Geldvermögen in Deutschland
ungefähr in dem Umfang, in dem die Staatsverschuldung zunahm.
Das Gesamtvermögen der deutschen Millionäre liegt zur
Zeit bei 2.000 Milliarden Euro und das gesamte Geldvermögen
beträgt in Deutschland inzwischen 3.658 Milliarden Euro,
wobei 5% der Deutschen, 46% dieses Geldvermögens besitzen.
In diesen Beträgen meine Damen und Herren, kumulieren sich
die Spar- und Privatisierungsprogramme der vergangenen Jahre;
hier und nicht bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den
Senioren, den Studenten oder den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern,
muss das Geld zur Sanierung der öffentlichen Haushalte geholt
werden. Hier die Schere anzusetzen, erfordert wirklich Mut, muss
man sich doch mit den Mächtigen im Land anlegen, wenn die
Vermögenssteuer wieder eingeführt, die Steuerprüfung
effizient gestaltet und die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer
nachhaltig verbreitert und ein nicht absetzbarer Grundbetrag eingeführt
werden soll. Wer aber angesichts einer Sparoffensive gegen Kitaeltern,
soziale Initiativen, Schulen, Jugendliche oder Senioren von „Mut“
spricht – meine Damen und Herren von der CDU -, der ist
zynisch!
Rüsselsheim befindet sich am Ende einer globalen
Entwicklungskette, deren Zusammenhänge und Wirkungen gerne
als Naturgesetz beschrieben werden. Doch weltweit geraten die
herrschenden Verteilungsstrukturen in die Kritik und auch bei
rotgrün wachsen die Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen
Weges. Und so fand dann auch ein bemerkenswerter Satz Eingang
in den Vorbericht zum Haushaltsplan für das Jahr 2004: Die
bisherige Wirkungslosigkeit vergangener Konsolidierungsversuche
mache deutlich, heißt es da, „dass die Stadt Rüsselsheim
aus eigener Kraft, d.h. durch weitere Leistungskürzungen
gegenüber dem Bürger“ den Haushaltsausgleich nicht
erreichen kann. Wie lange meine Damen und Herren, ist die Halbwertzeit
dieses Satzes? Zwei Monate? Während Oberbürgermeister
Gieltowski in seiner Einbringungsrede noch vergleichsweise deutlich
auf die Grenzen kommunaler Konsolidierungsbemühungen hingewiesen
hat, scheint es der CDU mittlerweile gelungen zu sein, diese Erkenntnisse
in Makulatur zu verwandeln. Wurde zunächst vom Magistrat
der Eindruck erweckt, dass weitere Maßnahmen des Sozial-
und Bildungsabbaus ausgeschlossen sind, wird jetzt wieder mit
aller Kraft gegen sozial- und bildungspolitische Tabus gewettert.
Pisa-Studie hin oder her, gestiegene Jugendhilfekosten hin oder
her, Zunahme der von Sozialhilfe lebenden Kinder hin oder her,
Lehrstellenkrise hin oder her, zunehmende Zahl von Senioren hin
oder her – die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Doch auch die aus diesen Miseren sich zwingend ergebenden
Schlussfolgerungen, die immer mal wieder für kurze Zeit im
öffentlichen Diskurs aufblitzen, haben eine kurze Halbwertzeit:
Unter dem Diktat der Betriebswirtschaft verliert die Realität
des Lebens ihren Wert. Eine rein betriebswirtschaftlich ausgerichtete
Sparpolitik muss die Ökonomie des ganzen Hauses aus dem Blick
verlieren. Betriebswirtschaft betrachtet nur die Effekte für
den Augenblick, den eigenen Betrieb oder gar nur die eigene Abteilung,
sie richtet ihr Ziel vor allem darauf, Kosten abzuwälzen
und verkauft dies dann als Sparen. Diese fragwürdige Vorgehensweise
verfolgt auch die Stadt Rüsselsheim, etwa mit dem Outsourcen
sozialer Dienstleistungen oder der Umwandlung des Stadtkrankenhauses
in eine g GmbH.
Die jetzt von der Mehrheit dieses Hauses auf Betreiben
der CDU angestrebte neue Runde der Haushaltskonsolidierung lässt
nichts Gutes ahnen. Die Reste städtischen Vermögens
sollen verscherbelt werden, darunter das vom Freiwerk e.V. gemietete
Haus in der Waldstraße 52. In einer Zeit, in der alle vom
„lebenslangen Lernen“ sprechen, soll die Finanzausstattung
der Volkshochschule verschlechtert - und trotz erheblicher und
im Schul- Kultur- und Sportausschuss eindrucksvoll vorgestellter
Eigenleistungen der Sportvereine soll auch hier die Kürzungsschraube
angesetzt werden. Die von der CDU vorgeschlagene Anhebung der
Kitagebühren wäre ein glatter Wortbruch gegenüber
den Eltern und die vorgeschlagenen weiteren Privatisierungen würden
zu einer erheblichen Verschlechterung der Qualität öffentlicher
Infrastruktur in Rüsselsheim führen. Dies alles kann
aber noch abgewendet werden.
Doch bereits der heute hier zur Abstimmung stehende
Haushalt enthält über das Konsolidierungsprogramm hinausgehende
Schritte in die falsche Richtung. Außer der Anhebung der
Grundsteuer B, auf einen Spitzensatz im Kreis Groß-Gerau
sind zahlreiche Maßnahmen, auf die sich jetzt die interfraktionelle
Arbeitsgruppe geeinigt hat, mehr als fragwürdig. Neben den
Kürzungen bei Feuerdorn, Forum International und Sportvereinen
fällt der Verzicht auf die Erweiterung der Grundschule Königstädten
ins Auge. Diese und wahrscheinlich auch eine Reihe von weiteren
Einschnitten wurden von der Politik am grünen Tisch getroffen
– in nur sechs Stunden, wie sie stolz verkündet haben
- und sind mit den Betroffenen keineswegs kommuniziert. Da verwundert
es nicht, dass eine Nachfrage ergab, dass die Grundschule Königstädten
keineswegs auf die Erweiterung zur Ganztagsschule verzichtet hat
und an der Schule erhebliche Verärgerung sowohl über
den Sparbeschluss als auch die Art und Weise seines Zustandekommens
besteht. Über die Missachtung der Bürgerinnen und Bürger
hinaus ist natürlich auch das eingeschlagene parlamentarische
Verfahren mehr als fragwürdig. Gerade bei so weitreichenden
Entscheidungen müsste der Buchstabe unserer Geschäftsordnung
sehr ernst und dürften „Anträge mit finanzieller
Auswirkung“ „nicht ohne vorherige Anhörung des
Magistrates, des Finanzausschusses und der Fachausschüsse“
von der Stadtverordnetenversammlung beraten werden. Ich gebe hiermit
zu Protokoll, dass wir überprüfen, ob rechtliche Schritte
gegen dieses Verfahren einleiten können.
Wie auf Bundes- und auf Landesebene, so muss
auch in Rüsselsheim von einer weiter zunehmenden Entfremdung
zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Politik ausgegangen
werden. Diese Entfremdung wird sich nur überwinden lassen,
wenn die Kommunen mehr finanzielle Ressourcen erhalten, um auch
politisch alternative Gestaltungsmöglichkeiten zu haben,
denn nur dort, wo wirkliche Alternativen zur Debatte stehen, fühlen
sich die Menschen ernst genommen. Doch anders als noch vor einigen
Jahren wird heute von immer mehr Menschen die grundsätzliche
Richtung der Politik hinterfragt und wir brauchen auch mehr Protest
und Widerstand gegen kommunale Sparprogramme, damit die politischen
Parteien gezwungen werden, eine Gemeindefinanzreform, die diesen
Namen wirklich verdient, endlich auf die Tagesordnung zu setzen.
Viele von Studenten bei den Demonstrationen der letzten Wochen
mitgeführte Transparente kritisieren die Ökonomisierung
der Gesellschaft die und Verbetriebswirtschaftlichung von Bildung.
Ein Transparent, das mir gut in Erinnerung geblieben ist, forderte
„Schluss mit dem Falschgeiz – Für freien Zugang
zu Bildung und Hochschule!“ Solche Einsichten bieten Anlass
zu Hoffnung - und auf kommunaler Ebene sage ich daher: Schluss
mit dem Falschgeiz und nein zum Haushalt 2004!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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